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             München, 02.02.2004 Wir Kinder der 
            1970er Jahre wurden am Scheideweg einer der umfassendsten Veränderungen 
            des 20. Jahrhunderts geboren, der multimedialen Kulturrevolution. 
            Als Generation zwischen zwei Zeitaltern hatten wir das Glück, 
            ja das Privileg, in einem friedlichen Schwebezustand, der Ruhe vor 
            dem Sturm, aufgewachsen zu sein, die die Phase vor der rasanten 
            Computerisierung und medialen Vernetzung unseres Lebensalltags in 
            den 1990er Jahren kennzeichnete - obwohl der Flächenbrand des 
            Personal Computers von unserem kindlichen Spieltrieb am Commodore 
            64 schon ein Jahrzehnt früher ausgelöst wurde. Dieser kurze 
            Zeitraum des Innenhaltens vor dem neuen Cyberspace-Jahrtausend brachte 
            das Phänomen "Kinderhörspiele" als kollektive 
            Erfahrung einer ganzen Generation hervor. Bestenfalls als Adultophobie 
            einzelner infantiler Spinner belächelt, als vorübergehende 
            Zeiterscheinung eines sich in ständiger Veränderung befindlichen 
            Trashkultes abgetan oder gar als drohende Infantilisierung der Gesellschaft 
            gefürchtet, wurde bisher die Bedeutung dieser auditiven Prägung 
            einer ganzen Generation völlig unterschätzt. Aber was 
            treibt die nicht mehr ganz taufrische Spaßgesellschaft des 
            "totalen Medienzeitalters" der 1990er Jahre zurück 
            zu dem Erbe ihrer Kindheit? Welche Auswirkung hat es für unsere 
            Wohlstandsgesellschaft, wenn (fast) eine ganze Generation "Kidults"** 
            um die Dreißig quer durch alle sozialen Schichten bekennt, 
            sich von Hörspielhelden ihrer Kindheit in den Schlaf begeleiten 
            zu lassen? Daß uns keine kollektive Regression in die Infantilität 
            droht, beweist das bekennende "Kassettenkind" Annette 
            Bastian mit ihrer flott geschriebenen Studie über das (deutsche) 
            Kulturphänomen Kinderhörspiele. "Das Erbe der Kassettenkinder... 
            ein spezialgelagerter Sonderfall"*** bietet nicht nur für 
            eingefleischte Kinderhörspiel-Fans eine wunderbare Reise zurück 
            in die Kindheit einer ganzen Generation, die sich heute als Erwachsene 
            selbstbewußt zu ihrer Leidenschaft bekennt: "Aus dem 
            Untergrund an die Öffentlichkeit - Kassettenkinder, wohin man 
            sieht" - in ihrem ersten Kapitel nähert sich Annette Bastian 
            über ihre eigene Hörspielkinder-Karriere an dieses "Kulturphänomen" 
            an. Da liest man von unüberlegten Flohmarktverkäufen als 
            pubertierender Teenie, die man mit aufwendigen Wiederbeschaffungsmaßnahmen 
            als Twen büßen mußte, erfährt von dem unguten 
            Gefühl, vielleicht ein Fall für den Psychiater zu sein, 
            weil man nicht ohne Kinderkassetten einschlafen kann, um dann angesichts 
            des überwältigenden Erfolgs der "Master 
            of Chess" - Tour der Drei Fragezeichen 2002/03, der Kultshows 
            des Vollplaybacktheaters 
            und der zahlreichen Fanpages, Diskussionsforen und Tauschbörsen 
            im Internet beruhigt festzustellen, daß man mit seinem "infantilen 
            Hobby" keineswegs allein ist. Durch ihr eigenes Bekenntnis 
            zur Kinderhörspielsucht (vgl. vor allem ihr Projekt "Gefährliche 
            Helden") gelingt es Bastian schon auf den ersten Seiten, 
            eine geradezu konspirative Verbundenheit zu ihren Lesern herzustellen, 
            und es ist klar, daß man dieses Buch verschlingen muß, 
            am besten ohne Pause - wie ein spannendes Hörspiel!  
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             In 
            den folgenden Kapiteln wird eine typische Kassettenkinder-Karriere 
            entworfen, wobei der Autorin auf angenehme Weise der Spagat zwischen 
            dem Erzählen eigener Erinnerungen und der Präsentation 
            der wichtigsten Hörspielhelden unserer Kindheit gelingt.   Selbst das analoge Zeitalter der 1970er und 1980er 
            Jahre, diese "mediale Steinzeit", in dem das typische 
            Kasettenkind aufwuchs, war geprägt von einer kleinen, aber 
            entscheidenden Revolution der Audio-Elektronik: "In den 80er 
            Jahren eroberte der Kassettenrekorder die Kinderzimmer. [...] Mit 
            dem Kassettenrekorder begann im Kinderzimmer eine neue Ära." 
            Der Übergang von relativ teuren und äußerst empfindlichen 
            Langspielplatten zu günstigen und auch für Kinder problemlos 
            zu handhabenden Kassetten ermöglichte den Siegeszug der Abenteuer-, 
            Grusel- und Kriminalserien für Kinder. Davor waren es vor allem 
            Märchenschallplatten und Vertonungen bekannter Kinderbücher, 
            die die frühen Hörspieljahre prägten. Erst mit der 
            Umsetzung des Serienkonzepts, Ende der 1970er Jahre mit den Fünf 
            Freunden, Hanni und Nanni sowie Hui Buh begann die eigentliche Blütezeit 
            der Kassettenkinder!  Die Hochphase der deutschen Kinder- und Jugendhörspiele 
            ist untrennbar mit dem Label EUROPA verbunden. Nicht nur die berühmtesten 
            Serien Drei Fragezeichen, Fünf Freunde und TKKG, sondern unzählig 
            viele weitere Kinderhörspiele werden bis zum heutigen Tag von 
            diesem Kultlabel in Hamburg unter der Regie der Märchenkönigin 
            Heikedine Körting produziert und erfolgreich vermarktet. Ohne 
            EUROPAs Mut zur Massenproduktion von günstigen Kinderhörspielen 
            hätte es das Phänomen der Kassettenkinder in Deutschland 
            wohl nie gegeben, wie ein Blick in die europäischen Nachbarländer 
            zeigt: Wahrscheinlich nirgends in Europa existiert eine solche Vielfalt 
            an Kinderhörspielen wie im deutschen Sprachraum (Annette Bastians 
            Befund, daß "weder Frankreich noch Spanien noch Italien 
            noch England noch Russland Vergleichbares zu unserer Kinder- und 
            Jugendhörspiellandschaft aufbieten", können wir um 
            Griechenland ergänzen). So ist es auch nicht verwunderlich, 
            daß Bastian hauptsächlich EUROPA-Produktionen in ihrem 
            Buch präsentiert. In vier ausführlichen Kapiteln mit zahlreichen 
            Bildern von Covern und Sprechern werden dem Leser die Fünf 
            Freunde, Drei Fragezeichen, TKKG und - sehr lobenswert - oftmals 
            "überhörte" Produktionen wie die Funk-Füchse, 
            Scotland Yard, Tom & Locke und Captain Blitz vorgestellt. Durch 
            die Verknüpfung von gut recherchierten Faktenwissen mit interpretatorischem 
            Verständnisanspruch sind diese Kapitel selbst für eingefleischte 
            Hörspielfans ein Lesegenuß, auch wenn sie - verständlicherweise 
            - keine überraschenden Neuigkeiten bieten.  Schade ist nur, 
            daß der Pumuckl, ein 
            bayerischer Hörspielheld, der spätestens seit der Verfilmung 
            mit Gustl Bayrhammer überregional bekannt sein dürfte, 
            nur mit wenigen und noch dazu falschen Randnotizen bedacht wird: 
            "...die Serie ist im Nachhinein übrigens auch bei EMI 
            und Karussell im Hörspielformat erschienen..." Richtig 
            ist, daß der Pumuckl ursprünglich nur als Hörspiel 
            gedacht war, und die ersten Folgen vom Bayerischen Rundfunk bereits 
            1965 produziert wurden. Zu kaufen gab es dann die Geschichten des 
            frechen Kobold in der ersten Auflage von EMI Coumbia Disneyland 
            ab 1972, also gute zehn Jahre vor der Verfilmung! Liest man das 
            letzte Kapitel dieses "ganz anderen Generationenbuches", 
            bekommt man den Eindruck, daß die "Kassettenkinder aus 
            Hörspieldeutschland" demnächst Einzug in Soziologieseminare 
            an der Uni halten werden. Der Versuch Annette Bastians, zu einem 
            wissenschaftlichen Erklärungsansatz dieses scheinbar rein deutschen 
            Kulturphänomens zu gelangen, bietet einige interessante Thesen, 
            und es bleibt zu hoffen, daß die "Kinderhörspiele 
            in den nächsten Jahren in der Wissenschaft die Aufmerksamkeit 
            bekommen, die sie verdienen." 
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             * Michael Rutschky ** 
            "Aus den USA kommt das passende Wort für die Mischung 
            aus Kind und Erwachsenem: die "Kidults", zusammengesetzt 
            aus "kid" und "adult",  Caroline Bock, dpa: Lolli, 
            Brause und "drei ???" *** Annette Bastian: Das 
            Erbe der Kassettenkinder... ein spezialgelagerter Sonderfall, Brühl: 
            Eccomedia 2003 (ISBN 3-936782-15-6), 14,90 Euro 
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